Warum behutsame Rückversicherung keine Schwäche ist

Wie ein sicherer Raum im Nervensystem entsteht – statt endloser Reassurance-Loops

Manchmal reicht ein Satz: „Alles gut zwischen uns?“ – und schon ist die nächste Runde eröffnet. Wer neurodivergent ist oder mit Angst lebt, kennt das Bedürfnis nach Rückversicherung. Wer daneben steht, kennt oft das hilflose Gefühl: „Wenn ich immer beruhige, mache ich es doch schlimmer.“

Beides stimmt – und beides stimmt nicht. Die Wahrheit liegt dazwischen: Behutsame Rückversicherung ist keine Schwäche und kein „Enabling“. Sie kann der entscheidende erste Schritt sein, damit das Nervensystem überhaupt wieder lernen und wachsen kann.

1. Die Suche nach Rückversicherung: wann hilft es, wann schadet es?

Ja, exzessives Rückversichern kann zur Gewohnheit werden, die Angst langfristig aufrechterhält.

Typische Warnsignale:

• Die Frage kommt mehrmals täglich.

• Die Erleichterung hält nur Minuten.

• Es geht nicht um Information, sondern um 100 % Gewissheit – bei Fragen, die keine 100 % haben können.

• Die Beziehung leidet darunter.

  
  

Das ist der Punkt, an dem es problematisch wird.

Aber: Das komplette Verbot von Rückversicherung ist genauso falsch.

2. Warum „einfach loslassen“ meist nicht funktioniert

Unser Nervensystem ist nicht dafür gemacht, allein im Alarmzustand Resilienz zu lernen. Vorher braucht es Sicherheit – das nennt sich Co-Regulation.

Kurz gesagt: Erst wenn wir uns gesehen und sicher fühlen (parasympathische Aktivierung, „Window of Tolerance“), kann das Gehirn überhaupt neue Strategien aufnehmen. Ohne diesen sicheren Boden bleibt jede „Lern die Unsicherheit auszuhalten“-Ansage ein netter Ratschlag, der im Körper nicht ankommt.

3. So geht behutsame Rückversicherung, die wirklich weiterhilft

Der Trick ist nicht „nie beruhigen“, sondern beruhigen + gleichzeitig den Übergang zur Eigenregulation bauen.

Drei Phasen, die sich in der Praxis bewährt haben:

a) Sicherheit geben – kurz und klar

• „Ich bin hier. Ich bleibe.“

• Gemeinsam 60 Sekunden atmen oder Hand halten.

• Ein vereinbartes Mini-Ritual (z. B. Codewort „Anker“, dann 3 tiefe Atemzüge zusammen).

  
  

b) Brücke zur Selbstregulation Sobald die gröbste Welle weg ist: „Willst du jetzt einmal selbst schauen, wie sich das anfühlt, wenn du den Gedanken einfach nur beobachtest? Ich bleibe neben dir.“ Kleiner Schritt, grosse Wirkung – und viel Lob für den Versuch, nicht nur fürs Gelingen.

c) Klare, liebevolle Grenzen gemeinsam vereinbaren: „Du darfst mich dreimal am Tag fragen. Beim vierten Mal machen wir erst unser Atem-Ritual, dann schaue ich mit dir, was du selbst tun kannst.“ So bleibt Rückversicherung eine Brücke – und wird nicht zum Dauerzustand.

4. Warum das bei Neurodivergenz (ADHS, ASS) besonders wichtig ist

Neurodivergente Menschen haben oft ein sensibleres Nervensystem und schnellere Reizüberflutung. Unsicherheit fühlt sich deshalb existenzieller an – und das Bedürfnis nach Rückversicherung ist entsprechend grösser.

Wenn Partner:innen das als „Manipulation“ oder „anhänglich“ lesen, entsteht Scham – und Scham blockiert Regulation noch mehr. Verständnis für die neurobiologische Seite („Das ist kein Mangeldasein, das ist ein schnelleres Alarmsystem“) nimmt Druck raus und schafft genau den sicheren Raum, der für Wachstum nötig ist.

Fazit

Behutsame Rückversicherung ist kein „Verwöhnen“. Sie ist der sichere Hafen, von dem aus das Boot irgendwann allein losfahren kann.

Wer heute noch fünfmal fragt „Bist du sicher, dass du mich liebst?“ und morgen nur noch dreimal – und übermorgen selbst merkt „Ach, ich komm gerade klar“ – der hat nicht versagt, weil er gefragt hat. Der hat gewonnen, weil jemand da war, der ihm erst die Sicherheit gegeben hat, die er brauchte, um sie später selbst zu erzeugen.

Und das ist ziemlich stark.

Teile diesen Beitrag gerne, wenn du jemanden kennst, der gerade in genau dieser Dynamik steckt – als fragende oder als antwortende Person. Beide Seiten dürfen sich verstanden fühlen.

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